The Zephyr – Januar 2023

The Zephyr

18. Januar 2023

Liebe Weggefährtinnen und Weggefährten,

Als Hagar und ihr kleiner Sohn Ismael in der Wüste Paran ankamen und Abraham sich verabschiedete (Friede sei mit den dreien), war kein Wasser zu sehen. Hagar setzte Ismael ab und ging siebenmal zwischen den Hügeln Safa und Marwa hin und her. Als sie zu Ismael zurückkehrte, stellte sie fest, dass eine Quelle sprudelte. Vor ihrem Spaziergang war sie noch nicht da gewesen – zumindest nicht sichtbar. In unsicheren Zeiten ist ein Spaziergang manchmal genau das, was man braucht, um den richtigen Weg zu finden.

Gerade als vor drei Jahren der Lockdown ausgerufen wurde, zogen Sartaj und ich in ein kleines Haus am Fluss in Richmond. Ein täglicher Spaziergang, wann immer möglich, gehörte schon immer zu meinen Gewohnheiten, und so ging ich gleich los, um unsere neue Nachbarschaft zu Fuß zu entdecken. Ich war fasziniert davon, dass es praktisch keine Autos auf den Straßen gab, dass scharenweise Spaziergänger unterwegs waren, und dass diejenigen, die nicht unterwegs waren, auf ihren Veranden saßen, den Vorübergehenden zuwinkten, Instrumente spielten und Tee tranken. Ich fühlte mich, als wäre ich in William Morris’ Kunde von Nirgendwo gelandet. Mit der Zeit kehrte jedoch allmählich Normalität zurück. Autos tauchten wieder auf, und die Menschen auf den Veranden verschwanden. Ich mache weiterhin meine Spaziergänge, aber abgesehen von gelegentlichen Läufern oder Spaziergängern mit Hunden sind die Bürgersteige jetzt weitgehend leer. 

Es ist nicht immer leicht, mir Zeit für meinen Spaziergang zu nehmen. Manchmal bin ich nach einem langen Tag müde, oder mein Posteingang ist übervoll. Ich mache mir dann klar, dass ein Spaziergang nicht so sehr einen Energieaufwand bedeutet, sondern vielmehr einen Schub an Lebensfreude. Wenn ich frische Luft einatme und meine Glieder strecke, leidet meine Arbeit nicht darunter, sondern erhält Auftrieb. Außerdem ist ein Spaziergang eine Gelegenheit, die menschlichen Nachbarn, die Katzen, die Vögel, die Bäume, die Wolken und die Sonnenstrahlen zu begrüßen. Es ist vielleicht eine Gelegenheit, das letzte Platanenblatt des Herbstes oder den ersten lila Krokus des Frühlings zu begrüßen. Man weiß nie, wer einem über den Weg läuft oder was die Himmelsgeister so alles herabschicken. Solange es nicht sintflutartig schüttet, ist Regen für mich kein Grund, meinen Spaziergang ausfallen zu lassen. Warum nicht im Freien baden?

Spaziergänge liegen in der Familie. Hazrat Inayat Khan war bekannt dafür, dass er auf einem von ihm besonders bevorzugten Weg regelmäßig durch Suresnes spazierte. Noch mehr als Murshid pflegt mein Onkel Shaikh al-Mashaik lange Spaziergänge zu machen, in Suresnes und anderswo, und ich bin überzeugt, dass dies das Geheimnis seiner ausgezeichneten Gesundheit und Langlebigkeit ist. Er wurde letztes Jahr fünfundneunzig Jahre alt und ist so vital wie eh und je, Gott segne ihn.

Auch in der größeren spirituellen Familie der Inayatiyya ist das Gehen üblich. Murshid lehrte seine Murids, beim Gehen leise Zikr zu intonieren. Die Methode ist in Shah Nizam ad-Din Aurangabadis Nizam al-qulub beschrieben. Wenn man zügig geht, sagt man illa’llahu bei jedem Schritt. Wenn man langsam geht, sagt man auf dem rechten Fuß la, auf dem linken Fuß ilaha, auf dem rechten Fuß illa, und auf dem linken Fuß ‘llahu. Wenn man in einem mäßigen Tempo geht, sagt man auf dem rechten Fuß la ilaha und auf dem linken illa’llahu. Dabei geht man immer im Bewusstsein seines Murshid (und damit Murshids Murshid, usw.).

49470370 d613 d487 b77c 7693d5d58152Wie es in der Vergangenheit war, so möge es auch in der Zukunft sein. Mein Enkel Kara-Suleyman, der jetzt ein Jahr alt ist, hat begonnen, seine ersten wackeligen, aber entschlossenen Schritte zu machen. “Bei jedem Schritt auf dem Lebensweg Weisheit zu erlernen, ist die einzige Arbeit des Sufis”, sagte Kara-Suleymans Ururgroßvater.

‘Saunter’ (Schlendern) ist ein interessantes Wort. Thoreau glaubte, es sei aus der Beschreibung von mittelalterlichen Pilgern entstanden, die sich auf den Weg zur sainte terre, dem “heiligen Land”, in Jerusalem machten. In Wahrheit befindet sich der heilige Boden bereits unter den Füßen eines jeden Wanderers, bei dem Seele und Fußsohlen im Einklang sind.

Ist es nicht jetzt grade an der Zeit, vor die Tür zu gehen?

Immer der Ihrige,
Pir Zia

Original in Englisch

18 January 2023

Dear Companions on the Path,

When Hagar and her infant son Ishmael arrived in the Paran desert and Abraham took his leave (peace be upon the three of them), there was no water to be seen. Hagar set Ishmael down and walked back and forth seven times between the hills of Safa and Marwa. Returning to Ishmael, she found that a spring was welling up. It hadn’t been there until she took her walk – not visibly at least. When times are uncertain, sometimes a walk is exactly what is needed to reveal the way forward.

Just as lockdown was declared three years ago, Sartaj and I moved into a little house by the river in Richmond. A daily walk, whenever possible, has always been my custom, so I lost no time in exploring our new neighborhood by foot. To my fascination I found that there were virtually no cars on the roads, flâneurs were strolling in droves, and those who weren’t walking were on their porches, waving at passers-by, playing instruments, and drinking tea. I felt as though I had stepped into William Morris’ News from Nowhere. With time, however, normalcy gradually returned. Cars reappeared and porch sitters disappeared. My walks have continued, but – with the exception of an occasional runner or dog walker – the sidewalks are now largely vacant. 

It isn’t always easy to make time for my walk. I might be tired after a long day, or my inbox might be overflowing. I remind myself then that a walk is not so much an expenditure of energy as an infusion of élan vital. My work won’t suffer but will instead gain a boost if I imbibe fresh air and stretch my limbs. What is more, a walk is a chance to greet human neighbors, cats, birds, trees, clouds, and sunbeams. It might be an opportunity to hail the last sycamore leaf of autumn or the first purple crocus of spring. You never know who is going to cross your path or what the sylphs of the sky will send down. Unless it’s torrential, rain isn’t a reason for me to cancel my walk. Why shouldn’t I bathe outdoors?

Walking runs in the family. Hazrat Inayat Khan was known to take regular strolls through Suresnes along a route he especially favored. Even more than Murshid was, my uncle Shaikh al-Mashaik is prone to long walks, in Suresnes and elsewhere, and I’m convinced it’s the secret to his excellent health and longevity. He turned ninety-five last year and is as vigorous as ever, God bless him.

Walking also runs in the larger spiritual family of the Inayatiyya. Murshid taught his murids to silently intone zikr while walking. The method is outlined in Shah Nizam ad-Din Aurangabadi’s Nizam al-qulub. When going briskly, illa’llahu is said with every footstep. When going slowly, on the right foot one says la, on the left foot ilaha, on the right foot illa, and on the left foot ‘llahu. When going at a moderate pace, on the right foot la ilaha is said, and on the leftilla’llahu. Throughout, one is walking in the consciousness of one’s Murshid (and therefore Murshid’s Murshid, etc.).

As it was in the past, so may it be in the future. My grandson Kara-Suleyman, now a year old, has begun taking his first wobbly but determined steps. “To learn wisdom at every step on the path of life is the only work of the Sufi,” said Kara-Suleyman’s great-great-grandfather.

Sauntering is an interesting word. Thoreau believed it arose as a description of medieval pilgrims making their way to the sainte terre, or “holy land,” of Jerusalem. The truth is that sacred ground is already under the foot of every saunterer whose soul and soles are in good accord.

Now, isn’t it time to step out the door?

Yours ever,
Pir Zia

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